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Martin Adel

Verträumter Realitätssinn:
Elisabeth Wedenig

Man könnte die Malerei seit der frühen Moderne in zwei Gruppen unterteilen: in eine Art Strich-Malerei und in eine Art Flächen-Malerei. Das ist zwar eine sehr vereinfachende, grobe Klassifizierung, sie leuchtet aber ein, wenn man etwa Picasso und Matisse, Feininger und Nolde oder – in Österreich – Schiele und Klimt miteinander vergleicht. Klar ist, dass es sich dabei nur um charakteristische Tendenzen des jeweiligen Werks handelt. Der Strich betont die Form, während die Farbe das optische Phänomen als solches hervorhebt. Einmal bemerkt, scheint diese Unterscheidung so evident, dass sie nicht näher beschrieben zu werden braucht. Uns hilft allerdings dabei, dass mit den genannten Klassikern der Moderne klar umrissene Lebens-Werke vor unseren Augen stehen. Das zum einen.


Zum anderen wird man konzedieren müssen, dass diese Unterscheidung in lineare oder flächige Strukturierung in der Nachkriegskunst zunehmend als obsolet gelten muss, denn sie ist für "action painting", für "Informel" oder für die zahllosen Spielarten von der "arte povera" über die "concept-art" bis zur Medien-Kunst der Gegenwart begreiflicherweise ohne jede Bedeutung. Aber gegenständliche Kunst – und dort allein hat die getroffene Unterscheidung ihre kennzeichnende Aussagekraft – ist nicht tot: Da ist Edward Hopper z.B., da sind aber auch Giacometti oder Morandi; da sind: die "Junge österreichische Malerei" der frühen 1980er Jahre (sie versteht sich ja als Rebellion gegen den "Zwang" zur Abstraktion), die neo-expressive Kraftlackelei in Deutschland (man denke etwa an Anselm Kiefer) oder der Foto-Realismus, da gibt es eine Rückkehr zum Realismus bei den "Young British Artists" (seit den späten 1980ern) und den "Leipziger Schulen" (seit den frühen 1990ern; derzeit die "Dritte" oder auch "Neue L. Sch." genannt). Das heißt: Tendenz zurzeit steigend. Man könnte es damit erklären, dass die technischen und medialen Möglichkeiten der Innovation und Entgrenzung so weit ausgeschöpft sind, dass nun alles gleichzeitig und gleichermaßen als künstlerische Ausdrucksform zur Verfügung steht. Präferenz einer bestimmten Stilistik wird nun weniger von Markt und Moden beeinflusst als zunehmend von individueller Sicht und Überzeugung. Damit gewinnt die eingangs gemachte Unterscheidung wieder an Bedeutung. Der neue Realismus, die Figuration, die neue Gegenständlichkeit haben – und das ist grundlegend wichtig – nichts z.B. mit der Neuen Sachlichkeit zu tun. Es handelt sich um kein modisches Revival! Es sind je unterschiedliche, weil konkrete Antworten zum jeweiligen Stand der Dinge und nicht nur zur Kunst! Das zeigen auch die Arbeiten Elisabeth Wedenigs.


Zunächst fällt ihr geübter Strich auf. Man merkt, dass sie seit der Kinderzeit viel gezeichnet hat, dass sie zeichnen kann. Das gibt dem Strich auch diese Ungezwungenheit und Natürlichkeit; er ist nicht manieriert. Eigentlich sind es zumeist Strichbündel, die dem Dargestellten nicht nur Plastizität geben, sondern auch unterschiedlich gewichten; nicht nur nach hell und dunkel. Die Werkgruppe Kubahaus (2006) enthält zwar eine Reihe von Blättern mit in-einem-Strich-gezogenen Konturlinien, aber das ist eher die Ausnahme. Die zweite aus demselben Jahr, Busreise mit dem fliegenden Känguru, weist wie auch die späteren zeichnerischen und malerischen Arbeiten (hier in den Details!) diesen Strichgestus auf: nicht genialisch expressiv, sondern eher professionell handwerklich; beschreibend mit einer Fertigkeit, die sich selbst kein Thema mehr ist. Nimmt man das zusammen mit den häufig "exotischen" Sujets, so gewinnt man den Eindruck ethnographischer Reisebilder. Ob eine Frisur, ein Haus, eine Frucht (überhaupt Fauna und Flora): Das wird alles von Elisabeth Wedenig gleichermaßen bewusst ausschnittweise festgehalten. Gewissermaßen dokumentarisch. Ihr Blick ist neugierig, aber nicht aufdringlich. Die Neugier steht für Offenheit und Aufgeschlossenheit; der diskrete Blick für empathischen Respekt, der es jedoch nicht an Distanz fehlen lässt. Keine falschen Identifikationen.


Wie gesagt, die Realität wird ausschnitthaft dargestellt, fragmentarisch; und das zumeist auch formal: Wesentliche Teile des Untergrunds bleiben frei. Man könnte meinen, es handle sich um Studien, aber dafür wirken sie gleichzeitig viel zu fertig; man vermisst nichts.


Schon die Romantik liebte das Fragment und das Fragmentarische; allerdings aus ideellen, ideologisch-philosophischen Gründen. Oder ganz anders: die traditionelle ostasiatische Kunst, zu deren Meisterschaft es gehört, die Leerflächen als Raum, als den Kosmos, in dem das Dargestellte seinen Ort hat, erscheinen zu lassen. Elisabeth Wedenigs "Fragmente" haben mit beidem nichts zu tun. Hier geht es um völlig Anderes: um das – wie schon gesagt – dokumentarische, das quasi ethnographische Detail. Wenn man so will, könnte man es als diagnostisches Detail bezeichnen und dabei an den in den späten 1970er Jahren Aufsehen erregenden Aufsatz Carlo Ginzburgs denken: Spurensuche. In diesem Aufsatz beschrieb Ginzburg besonders jenen diagnostischen Blick, der, ausgehend von Giovanni Morellis bahnbrechenden Aufsätzen zur modernen Museumswissenschaft, sehr rasch die Aufmerksamkeit auf das unbeachtete Detail richtete – insbesondere in der Kriminalistik, der Medizin und der Psychoanalyse. In gewisser Weise wird dabei das Unscheinbare zur wahren Auskunftsquelle, weil das scheinbar nebensächliche Vernachlässigbare den Schlüssel zum Auffinden des Authentischen, des Wirklichen verspricht.


Interessant ist nun Folgendes: Elisabeth Wedenig hat diesen Aufsatz nie gelesen und ist sich der Tragweite dieses Theorems der diagnostischen Spurensuche auch nicht bewusst gewesen, und so konnte sie nicht wissen, dass dieses Theorem auch in seiner zweiten Funktion und Wirkung auf ihre Arbeit zutrifft: Elisabeth Wedenig hat als zweiten Schwerpunkt ihrer Arbeit (also neben dem "ethnographischen" Detail) den Traum; genauer gesagt: Sie arbeitet mit ihren Träumen. D.h.: Sie führt gewissermaßen Buch über die eigenen Träume. Sie dienen aber nicht nur als Quelle der Inspiration. Ausdrücklich betont sie im Gespräch, dass sie sich nicht nur in jugendlicher Begeisterung für den Surrealismus interessiert habe (mit 17 malte sie – vielleicht typisch für das Alter – phantastische Symbolwelten und -figuren), auch heute, gut 10 Jahre später, empfinde sie noch eine spezifische Nähe zu dieser Bewegung rund um André Breton.


Es fällt auf, dass die Traumbilder insgesamt malerischer sind als die dokumentarischen Bilder. Die Linie spielt eine geringere Rolle, und die Fläche wird mehr zum Gestaltungsprinzip. Auch die Farbigkeit – nicht wirklich überraschend – nimmt zu. Traumwelten sind ja vielleicht tatsächlich bunter, zumindest in der wachen Vorstellung und in der malerischen Umsetzung. Die Materialwahl (Farbstifte, Aquarell, Acryl oder Öl; auf Kartons, Papier, Molino oder Tapeten-Mustern) scheint dagegen vergleichsweise wenig Einfluss zu haben. Auch lässt sich in beiden Arbeitssträngen im perspektivischen, geradezu architektonischen Raumverständnis eine häufige Übereinstimmung finden. Die zentralperspektivisch verzerrten Raum-Flächen dienen häufig zugleich als kompositorische Bild-Flächen, die, zum Teil in extremem Hell-Dunkel ausgeführt, nochmals beide Funktionen, die räumliche wie die kompositorische, unterstützen.


Zurück zu den Farben: Auf die Frage, ob sie eine bevorzugte Farbe habe (zugegeben eine dumme Frage, aber mit Hintergedanken), antwortet sie: Am ehesten Violett; Violett komme in fast jedem Bild vor. Violett: Das ist die Mischung aus Rot- und Blau-Tönen, aus warm und kalt: eine Art Farben-Symbolik für ihre Mischung aus Anteilnahme und Distanz? Tatsächlich sind moosige Grüntöne und ein kräftiges Rotbraun viel häufiger zu finden; insbesondere dieses Rotbraun, das, bis ins Schwärzliche gesteigert und verdichtet, starke Kontraste erzeugt; nicht nur in den Tobago-Bildern, sondern z. B. auch in Maria und die heilige Eidechse oder Kubahaus 1 und 2 (alle 2006) und noch in dem Zyklus Haus eines Anderen von 2008. Beide Arbeitsstränge Elisabeth Wedenigs weisen eine erstaunlich homogene Stimmung auf, die über die Farben weit hinausgeht. Um es ebenfalls in einem Bild zu beschreiben: Man stelle sich ein altes hölzernes Gartenhaus vor; warmer Sommerregen trommelt aufs Dach; allein mit sich selbst und diesem Rauschen umfängt einen eine geborgene Atmosphäre, die zum Träumen wie zum gelassenen Beobachten einlädt. Äußerste sensitive Wachheit und träumerische Ruhe gehen eine seltene, seltsame Symbiose ein. Nicht, dass so die Bilder Elisabeth Wedenigs entstehen, aber das teilen sie mit. Sie selbst scheint ihrer inneren Überzeugung ganz unmittelbar zu folgen und damit ihren eigenen Weg gefunden zu haben. Man darf gespannt sein, wohin dieser Weg sie noch führen wird – und damit auch die Betrachter.

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